Greifen und begreifen: wie Kinder sich die Welt ertasten

Stein auf Stein, – bis die Holzbausteine umfallen: Kinder entdecken die Welt und abstrakte Zusammenhänge über ihren Tastsinn. Und auch Erwachsene würden sich ohne die Fähigkeit – physische Dinge zu berühren und zu erfühlen – in ihrer Umgebung nicht zurechtfinden. Umso wichtiger ist es, diese Sinne zu fördern.

Die Hände greifen nach glatten festen Grashalmen, gleiten über eine körnige Oberfläche aus Sand und tauchen schließlich in weiches Wasser – ein Tag am Strand, mit allen Sinnen erlebt. Circa ab dem dritten Monat erkunden wir im Mutterleib erstmals aktiv unsere Umgebung und den eigenen Körper. Und noch bevor wir unsere ersten Worte sprechen, wollen wir die Welt entdecken: Es werden Gegenstände in den Mund gesteckt, Fäustchen in Kapuzen oder Haare gekrallt und ganz begeistert die eigenen Zehen berührt. Verschiedene Verhaltensstudien belegen, dass sich bereits Neugeborene, die noch keine 16 Stunden auf der Welt sind, Interesse für einfache geometrische Formen zeigen und versuchen, sie in den Händen zu halten. »Wenn Kinder auf die Welt kommen, sind ihre Sinne noch nicht gleichmäßig entwickelt«, so Dr. Gerd E. Schäfer, Professor für Allgemeine Erziehungswissenschaft und Gründer des Fortbildungsinstituts WeltWerkstatt e.V.. »Erst durch eine Interaktion mit der Umwelt – einem bewegen und ertasten ihrer Umgebung – gewinnen sie ihre Orientierung.«

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Die Hände sind dem Kopf voraus

Ich fühle, also bin ich

2005 fanden Wissenschaftler der Universität René Descartes heraus, dass die Fähigkeit – Dinge bereits in dieser frühen Lebensphase zu erkennen (und auch wiederzuerkennen) – ein überlebensnotwendiger Instinkt ist, denn nur das Ertasten mit dem Mund können Babys die Mutterbrust wiederfinden. Mit den Händen noch zu ungeschickt, stecken sie sich alles in den Mund, um es genauer haptisch zu erkunden und erste Informationen über ihre Umgebung und letztlich ein erstes Konzept von sich selbst zu entwickeln: Das hier bin ich. Ich kann mich von meiner Umwelt abgrenzen und sie handelnd mitgestalten.

Dem Bewusstsein einen Schritt voraus

Bereits in den 80er-Jahren schrieb der Entwicklungspsychologe Jean Paget, dass Kinder bis zu ihrem siebten Lebensjahr hauptsächlich durch Spiel und das Berühren von Gegenständen lernen. Eine Langzeitstudie von Wissenschaftlern der Universität Florida stellte zudem fest, dass Kinder, die bereits sehr früh mit Bausteinen  u.Ä. hantieren, später ein besseres Verständnis für mathematische Probleme entwickelten.

In ihren Mathematik-Experimenten 2010 demonstrierte die Gesten Forscherin Susa Goldin Meadow von der Universität Chicago, dass Kinder beim Lösen von Mathematischen Gleichungen oft mit ihren Händen bereits den richtigen Lösungsweg anzeigten, während sie verbal noch nicht in der Lage waren, es zu formulieren. In ihrer Veröffentlichung schrieb sie: »Häufig waren die Hände schon einen Schritt voraus und offenbar mit einem Wissen ausgestattet, das dem Bewusstsein nicht zugänglich ist.«


Die vorbereitete Umgebung – Montessori Kindermöbel von coclico

Durch Handeln entsteht Denken

Auch in der Montessori Pädagogik heißt es, das handelnde Erkunden (hier muss betont werden, das in »handeln« das Wort »Hand« steckt), geht dem Denken voraus, weil Denken nichts anderes ist als die innere Reflexion jener Handlungen. Durch ihre Beobachtungen der kindlichen Entwicklung erkannte die Pädagogin Maria Montessori, dass vor allem die haptische Auseinandersetzung von Kindern mit bestimmten Materialien ihnen die Möglichkeit gab, Ideen und Begriffe mit dem Verstand aufzunehmen und weiterzuverarbeiten. Für sie wurde der Tastsinn das zentrale »Lernorgan« – alles was Kinder »begreifend« erfahren, bleibt länger und dauerhafter im Gedächtnis. Dr. Gerd E. Schäfer sagt dazu ergänzend: »In den ersten zwei Lebensjahren brauchen Kinder eigentlich gar nicht viel Spielzeug. Man kann es ihnen als Erweiterung natürlich als eine Erweiterung anbieten, aber es ist kein Ersatz für die Erfahrungen, die im Alltag gemacht werden.«


Kind ertastet seine Umgebung

Tastsinn – der unterschätzte Sinn

Doch mit dem Einzug von Computern in den Kinderzimmern und Kindergärten wird nicht nur der instinktive Bezug zu Objekten und der Umwelt, sondern auch zum eigenen Körper verlernt – oder erst gar nicht erst erlernt. »Moderne Medien setzen einen realen Bezug und ein Bildverständnis voraus, das man zuvor erlernt hat«, so Dr. Gerd E. Schäfer.  »Aber wenn ein Kind z.B. einen Papagei immer nur auf dem Bildschirm sieht, dann weiß es nicht eigentlich gar nicht was ein Papagei ist. Dazu müsste es in den Zoo sehen oder Vögel zumindest konkret erlebt haben.«

Hinzu kommt, dass vor allem ältere Kinder oft gezwungen sind, passiv zu lernen. In ihren Klassenzimmern sitzen sie still auf dem Stuhl und lassen den Lernstoff nur so an ihren Ohren vorbeirauschen, ohne einen realen Bezug zu finden.

Die Welt ertasten – ein menschliches Grundbedürfnis

Als erster Sinn, der sich im Mutterleib entwickelt, und als Letzter, der vor dem Tod erlischt, ist der Tastsinn überlebenswichtig. Der Mensch kann die Augen schließen, sich die Ohren verstopfen und die Nase zuhalten – aber ohne sich seine Welt zu erfühlen, könnte er nicht einen Tag selbstständig leben. Umso wichtiger ist es für die gesunde Entwicklung eines Kindes, das haptische Bedürfnis nach Interaktion mit der Umwelt zu fördern. Es ist ein menschliches Grundbedürfnis, das elementar für die menschliche Entwicklung ist und uns dabei hilft, die ab und an doch sehr chaotische Welt besser zu begreifen. Sowohl bei Kindern als auch im erwachsenen Alter.

 

Zum Weiterlesen
»Homo Haptocicus. Warum wir ohne Tastsinn nicht leben können.«
Martin Grunwald
Droemer Knaur

Zum Weiterschauen
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